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16 – „ein Junge hat den Brief hingelegt“

  • Autorenbild: Enzo
    Enzo
  • 6. Juni
  • 2 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 14. Juni


Er legte den Brief auf den Tisch.

„Setz dich“, sagte Giorgio ruhig.

Ich nickte, meine Kehle trocken.


„Hast du Durst? Ich habe nur Wasser anzubieten.“


Mein Blick wanderte für einen Augenblick auf seinen Schritt.

„Gern“, antwortete ich – fast zu leise.


Er drehte sich um, ging in die kleine Küche, nahm zwei Gläser aus dem Regal.

Ich hörte das Plätschern des Wassers – und das Pochen meines Herzens.


Dann seine Stimme, beiläufig:

„Merkwürdig. Ich war nur kurz im Haus. Vorher lag der Brief nicht da.“

Kurze Pause.

„Hast du jemanden gesehen, der ihn hingelegt hat?“


Ich spürte, wie mir heiß wurde.

Meine Lüge war dünn wie Staub.

Zu durchsichtig. Zu nah.


Ich zwang mich zur Ruhe.

„Ja… ein Junge“, sagte ich.


„Ein Junge?“

Er drehte sich halb zu mir, das Glas in der Hand.

„Kannst du ihn beschreiben?“


Ich holte Luft.

„Ein junger Mann… schwarze Haare, helle Kleidung.“

Ich log nicht. Ich beschrieb mich selbst.

„Ich sah ihn nur kurz, bevor er um die Ecke weglief.“


„Also so jemand wie du?“, fragte er.

„Und er lief weg?“


Sein Blick lag jetzt ganz auf mir. Nicht hart – aber wach.

Er reichte mir das Glas, setzte sich neben mich.


Und plötzlich war er da.

So nah.

So viel.


Ich konnte den Duft seiner Haut riechen – warm, erdig, männlich.

Seine Oberschenkel neben meinen, breiter, fester, spürbarer.

Er saß barfuß. Seine Füße ruhten flach auf dem Boden.

Groß. Stark. Selbstverständlich.


Ich fühlte mich klein neben ihm.

Schmal. Durchsichtig.

Wie ein Schatten an seiner Seite.


„Was steht wohl in diesem Brief?“, murmelte er, öffnete das Blatt, reichte es mir.


„Danke, dass du ihn mir vorliest.“


Ich nahm das Papier in die Hand.

Es zitterte. Oder war ich es, der zitterte?


Der Brief – von mir.

Mit jeder Zeile, die nach ihm roch.

Jede Silbe eine Berührung, die ich nicht wagte.


Und nun sollte ich sie ihm laut sagen.

Laut.

Neben ihm.


Während er da saß – barfuß, halbnackt, ruhig.

Wie ein Gott, der nicht wusste, dass jemand ihn anbetete.


Ich spürte, wie meine Kehle trocken wurde.

Wie meine Stimme sich weigerte, aber mein Körper wollte.

Es war zu viel. Und doch genau richtig.


Dann – begann ich zu lesen.

Langsam.

Mit meiner Stimme.

Meine Worte.

Für ihn.


Für den Mann, dem ich nie sagen wollte,

dass sie von mir sind.




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