top of page

15 – damit hatte ich nicht gerechnet

  • Autorenbild: Enzo
    Enzo
  • 5. Juni
  • 2 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 14. Juni




„Ist der Brief von Dir, Junge?“ fragte Giorgio.


Seine Stimme war ruhig. Aber da war etwas in seinem Blick – ein leichtes Anheben der Augenbraue, ein Hauch von Ahnung.


Ich zitterte.

Nur ganz leicht, aber spürbar.

Mein Herz raste.


Jetzt. Jetzt war der Moment, in dem alles kippen konnte.


Sollte ich ehrlich sein?

Sollte ich einfach „Ja“ sagen?


Doch ich erinnerte mich an meinen Plan:

Er sollte nicht wissen, wer den Brief geschrieben hatte. Nicht jetzt. Nicht so.


Ich zwang mich, ihn anzusehen.

„Nein“, sagte ich. „Ich bin gerade erst gekommen. Er lag schon da.“


Ein kurzer Moment Stille.

Sein Blick ruhte auf mir – zu ruhig.

Skepsis. Oder Spiel?


Ich bückte mich.

Wollte den Brief aufheben.

Ich weiß nicht, warum ich das tat – aber in diesem Moment fühlte es sich richtig an.

Mich vor ihm zu beugen.

Etwas für ihn zu tun.

Auch wenn es nur ein Zettel auf dem Boden war.

Es war genug.


Ich reichte ihm den Brief.

Er nahm ihn.

„Danke“, sagte er. Ganz einfach.

Dann: „Hast du gut geschlafen?“


Ich nickte. „Ja, danke. Und du?“

Obwohl ich in Wahrheit kaum ein Auge zugetan hatte – wegen ihm. Wegen allem.


Er schwieg kurz. Schaute mich an, als müsse er seine Antwort abwägen.

Dann sagte er nur:

„Es geht so… Ich hatte komische Träume.“


Komische Träume.

Ich spürte, wie mir heiß wurde.

War ich darin vorgekommen?

Oder meinte er die beiden Männer vom Morgen?


Er hatte mich gesehen. Und trotzdem nicht angesprochen.

Jetzt war er hier, mit dem Brief in der Hand. Und fragte.


Er faltete das Papier auf. Schaute kurz drauf.

Dann sah er mich wieder an.


„Kannst du lesen?“


Ich stockte.

Oh Gott.

Ich hatte nicht einmal daran gedacht…

Was, wenn er nicht lesen konnte?


„Ja… Soll ich ihn dir vorlesen?“ fragte ich – mutiger, als ich mich fühlte.


Er nickte.

„Ja, gerne. Komm rein.“


Sein Ton war schlicht. Freundlich.

Nicht distanziert. Nicht misstrauisch.

Einfach offen.


Ich trat ein.

Ein paar Schritte nur.

Der Raum war warm, roch nach Stein, Erde und Olivenholz.


Und da stand ich.

Mit dem Brief in der Hand.

Dem Brief, den ich geschrieben hatte.

Mit all meinen Worten.

All meinem Begehren.

All meinem Innersten.


Und ich sollte sie jetzt…

ihm vorlesen.

Comments

Rated 0 out of 5 stars.
No ratings yet

Add a rating

Folge teilen

bottom of page