1-5 / Sicilien 1926
- Giorgio
- 14. Juni
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 15. Juni
1 – Die Sonne Siziliens
Ich lebte allein.
Seit Jahren.
Kein Besuch. Kein Gespräch. Keine Nähe.
Die Felder waren mein Leben.
Die Erde unter meinen Füßen.
Der Geruch von Olivenholz in der Sonne –
das war mein Alltag.
Mehr nicht.
Weniger schon lange.
Ich sprach kaum.
Mocht’ keine Menschen.
Mocht’ keine Nähe.
Die Katzen –
das waren die Einzigen, die kamen.
Wenn sie wollten.
Und es gab eine.
Schwarz. Still.
Scheu bei anderen.
Aber nicht bei mir.
Sie kam immer wieder.
Wann es ihr passte.
Nicht wie ein Haustier.
Eher wie ein Schatten,
der zurückkehrte,
weil er wusste, wo er hingehörte.

An diesem Tag stand ich vor meiner Haustür.
Barfuß, wie immer.
Die Sohlen staubig vom Feldweg.
Die Sonne lag tief.
Die Katze schmiegte sich an mein Bein.
Ich sprach leise:
„Hey, bella. Wer bist du da unten?
Ich sollte dir einen Namen geben.
Ich bin Giorgio.
Ich habe keine Macht über dich –
aber du kehrst immer wieder zu meinen Füßen zurück.
Vielleicht magst du mich.
Hast du Hunger? Ein bisschen Milch vielleicht?“
Ich sprach es mehr in den Staub als zu ihr.
Aber sie hob den Blick.
Und ich fühlte, dass sie mich verstand.
Dann hörte ich Schritte.
Langsam.
Nicht fremd – aber fremder als alles, was ich in letzter Zeit gehört hatte.
Ein Junge.
Fein im Gesicht.
Weich in der Bewegung.
Ein Blick, der zu lang blieb.
Aber nicht forderte.
Eher…
sehnsüchtig war da etwas.
Er kniete sich neben mich.
So selbstverständlich, als gehöre er dahin.
„Hat sie keinen Namen?“, fragte er.

Ich richtete mich auf.
Seine Stimme war anders.
Sanft. Wachsam.
Und irgendetwas in mir reagierte darauf.
Nicht mit Abwehr.
Aber auch nicht mit Verstehen.
Ich konnte es nicht benennen.
2 – Erste Berührung
Ich sah, wie sein Blick nach unten glitt.
Zu meinen Füßen.
Langsam.
Nicht verstohlen.
Fast… ehrfürchtig.
Ich sagte nichts.
Aber ich spürte es –
ein Ziehen in der Brust.
Unbekannt.
Nicht unangenehm.
Aber fremd.
Ein erstes Klopfen aus einer Tür, die ich nie geöffnet hatte.

Ich legte ihm die Hand auf die Schulter.
Keine Einladung.
Keine Drohung.
Nur Gewicht.
Ein Zeichen.
Ein Kontakt.
„Du kannst gut mit wilden Bestien“, sagte ich.
Es sollte beiläufig klingen.
Aber ich beobachtete ihn genau.
Er atmete flach.
Ich spürte seine Spannung.
Seine Erwartung.
Als hätte meine Hand mehr Bedeutung für ihn, als ich beabsichtigt hatte.
Ich war gut im Lesen von Menschen.
Nicht durch Worte –
durch Körper.
Ich sprach weiter:
„Ich glaube, da unten hat jemand Hunger.“
Er antwortete kaum hörbar.
Doch ich spürte es.
Es war nicht die Katze,
die da unten etwas wollte.
Sein Blick hob sich.
Nur kurz.
Ein Moment auf meinen Schritt.
Und ich sah es.
Dieses Verlangen,
das sich nicht in Worten zeigte,
aber in Haltung, in Atem, in Blick.

Er wollte meine Füße.
Nicht als Bild.
Nicht aus Höflichkeit.
Er begehrte sie.
Und etwas in mir –
etwas, das geschlafen hatte –
begann zu erwachen.
Er stand auf.
Vermeidet zuerst meinen Blick.
Dann reichte er mir die Hand.
„Ich heiße Enzo.“
Ich nahm sie.
„Giorgio. Freut mich.“
Unsere Hände trafen sich.
Seine Haut war weich.
Meine war hart.
Und doch:
Als sich unsere Finger berührten,
durchfuhr es mich wie ein Stromstoß.
Ein einziger, stiller Blitz.
Ich kannte das nicht.
Und ich mochte es nicht.
Doch ich spürte es.
Tief.
Etwas war anders.
3 – Was kann ich dir anbieten?
Er deutete auf das Nachbarhaus.
Das seiner Großeltern.
Ich kannte sie.
Gute Leute.
Still. Unauffällig.
Wie er.
Ich mochte, wie ruhig er sprach.
Kein Drama.
Keine Pose.
Nur ein Junge, der einen Ort gefunden hatte,
wo sein Schmerz nicht schreien musste.

Dann berührte er mich.
Seine Hand auf meiner Schulter.
Sie war klein.
Vorsichtig.
Aber spürbar.
Normalerweise störte mich so etwas.
Aber seine Berührung hatte etwas Achtsames.
Etwas, das nicht nahm,
sondern fragte.
Ich mochte es nicht.
Dass ich es mochte.
Das Gefühl, ihn bei mir zu haben, war schön.
Aber gefährlich.
Die Nachbarn mussten nichts sehen.
Nichts vermuten.
Nichts verstehen.
„Komm rein“, sagte ich.
Nicht weil ich musste.
Sondern weil ich es wollte.
Er folgte mir.
Und ich sah, wie er ging.
Nervös.
Aber kontrolliert.
Zu kontrolliert.
Ich spürte seine Unsicherheit wie einen Strom.
Und sie gefiel mir.
Sie machte ihn weich.
Und mich…
wach.
In der Küche war es kühl.
Der Schatten lag wie eine Decke über den Fliesen.
Er stand da –
leicht angespannt.
Ich sah es an den Schultern.
Am Kiefer.
An der Art, wie seine Hände sich hielten,
als wollten sie sich an sich selbst festhalten.
„Was kann ich dir anbieten?“ fragte ich.
Ich sah auf seine Lippen.
Sie sprachen nichts.
Sie waren nur da.
Rot. Offen.
Er schaute mich an.
Nicht fordernd.
Nur wartend.
Ich trat näher.
Nicht viel.
Nur genug.
„Ich habe nur Wasser“, sagte ich.

„Wasser ist gut“, kam es leise zurück.
Sein Blick sagte etwas anderes.
Er hatte auf mehr gehofft.
Oder auf etwas anderes.
Und ich wusste nicht, was.
Oder wollte es nicht wissen.
Noch nicht.
4 – Ja, ich trinke viel Wasser
Wir saßen.
Ich trank wie immer viel.
Die Hitze forderte ihren Tribut.
Der Krug war bald leer.
Mein Körper verlangte nach Kühlung –
nach Entladung.
„Du trinkst echt viel Wasser“, sagte er.
Endlich ein paar Worte.
Ich grinste.
Ich wollte seine Unsicherheit nicht vergrößern.
Aber ich genoss, dass sie da war.
Ich genoss seine Aufmerksamkeit.
Ich versuchte es spielerisch:
„Ich muss auch oft pissen.
Wenn du wüsstest, wie lange ich pisse jeweils…
Es reicht, um das ganze Feld zu bewässern.“
Ich lachte.
Ehrlich.
Und er lachte mit.
Herzhaft.
Aber in seinen Augen –
da flackerte etwas.

Sein Blick war nicht ziellos.
Er wanderte.
Und ich ließ ihn.
Ich ließ ihn sehen.
Ich mochte den Jungen.
Etwas an ihm…
zog mich an.
Nicht laut.
Aber stetig.
Ich sprach von meinen Äpfeln.
„Die besten der Welt“, sagte ich.
Nur halb im Scherz.
Er lachte.
„Sagen das nicht alle?“
„Nein. Nur ich.“
Ich hatte die besten Äpfel der Insel.
Ich wusste das.
Ob es an der Sonderbewässerung lag?
Ich dachte es – und schmunzelte innerlich.
Ich trank wirklich viel.
Und jeder Baum hatte irgendwann…
nun ja.
Ein Teil von mir steckte in allem da draußen.
Vielleicht mochte ich sie deshalb so.
Dann kam die Katze wieder herein.
Wie immer.
Wie eine Antwort.
Sie kam zu mir.
Legte sich an meine Füße.
Wie selbstverständlich.
Wie als wüsste sie, wohin sie gehörte.

Ich spürte Enzos Blick.
Er folgte ihr.
Oder mir.
Oder uns beiden.
Er beugte sich hinab, zu ihr.
Und kam mir dabei zu nah.
So nah,
dass ich seinen Atem spürte –
an meiner Haut.
An meinen Zehen.
Ich hätte ihn wegstoßen sollen.
Ich hätte etwas sagen sollen.
Doch ich tat nichts.
Ich wollte nicht, dass er sich entfernte.
Mir gefiel, was ich sah:
Er da unten.
Klein.
Zögerlich.
Und zu nah.
Etwas regte sich in meinem Schritt.
Ein Pochen.
Ein Pulsieren.
Ohne Berührung.
Ohne Grund.
Das passierte mir nie.
Ich verstand es nicht.
Er war ein Mann.
Ich war nicht schwul.
Er vielleicht. Sicher.
Aber ich? Nein.

Ich musste raus aus der Situation.
Sie überforderte mich.
Ich verstand mich selbst nicht mehr.
Aber ich wollte ihn auch nicht gehen lassen.
5 – Willst du mitkommen?
Ich musste raus.
Raus aus dem Haus.
Raus aus mir.
„Ein paar Oliven sind reif“, sagte ich.
„Willst du mitkommen?“

„Ja, gern“, kam es schnell.
Zu schnell.
Wir gingen zum Stall.
Fütterten die Esel.
Ich beobachtete ihn –
wie er mit dem Kleinen umging.
Zärtlich.
Aber nicht schwach.
Nur… achtsam.
Wie jemand, der gelernt hat, leise zu lieben.
Wir liefen los.
Ich fragte:
„Hast du Hunger?“
Er zögerte.
Ein Warten.
Ein inneres Suchen nach der richtigen Antwort.
Aber ich ließ ihn nicht fertig denken.

„Ich hab das Leckerste für dich, das du dir vorstellen kannst.
Wenn wir da sind, zeig ich dir, wie Paradies schmeckt.
So was hast du noch nie im Mund gehabt.“
Sein Blick flackerte.
Ich bemerkte es –
aber erst später verstand ich,
was er in diesen Worten gehört hatte.
Wir kamen an.
Der Olivenhain lag still.
Die Sonne stand schwer auf den Ästen.
Kein Wind.
Nur das Atmen des Landes.
Ich breitete eine Decke aus.
Holte Brot.
Oliven.
Äpfel.
Alles normal.
Zu normal.
„Meine Äpfel musst du probieren“, sagte ich.
Er: „Äpfel?“
Und ich sah in seinen Augen diese Enttäuschung.
Kaum sichtbar.
Aber spürbar.

Er hatte auf etwas anderes gehofft.
Etwas, das ich nicht aussprechen wollte.
Oder nicht konnte.
Er biss hinein.
Ich beobachtete ihn zu lange.
Wie sich sein Mund öffnete.
Wie seine Lippen das Fruchtfleisch umschlossen.
Ich sah, wie er kaute.
Wie er schluckte.
Und ich musste wegsehen.
Doch das Bild blieb.
Sein Mund.
Sein Hunger.
Nicht nach Apfel.
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